Interview mit mir selbst
Anno Zwounddreißig
Ich bin als Emigrantenkind geboren
In einer kleinen, klatschbeflißnen Stadt,
Die eine Kirche, zwei bis drei Doktoren
Und eine große Irrenanstalt hat.
Mein meistgesprochnes Wort als Kind war "Nein".
Ich war kein einwandsfreies Mutterglück.
Und denke ich an jene Zeit zurück -
Ich möchte nicht mein Kind gewesen sein.
Im Ersten Weltkrieg kam ich in die achte
Gemeindeschule zu Herrn Rektor May.
Ich war schon sechs, als ich noch immer dachte,
Daß, wenn die Kriege aus sind, Frieden sei.
Zwei Oberlehrer fanden mich begabt,
Weshalb sie mich, zwecks Bildung, bald entfernten.
Doch was wir auf der Hohen Schule lernten,
Ein Volk "Die Arier" ham wir nicht gehabt.
Beim Abgang sprach der Lehrer von den Nöten
Der Jugend und vom ethischen Niveau.
Es hieß, wir sollten jetzt ins Leben treten.
Ich aber leider trat nur ins Büro.
Acht Stunden bin ich dienstlich angestellt
Und tue eine schlechtbezahlte Pflicht.
Am Abend schreib ich manchmal ein Gedicht.
Mein Vater meint, das habe noch gefehlt.
Bei schönem Wetter reise ich ein Stück
Per Bleistift auf der bunten Länderkarte.
An stillen Regentagen aber warte
Ich manchmal auf das sogenannte Glück.
Post Scriptum
Anno Fünfundvierzig
Inzwischen bin ich viel zu viel gereist,
Zu Bahn, zu Schiff, bis über den Atlantik.
Doch was mich trieb, war nicht Entdeckergeist,
Und was ich suchte, keineswegs Romantik.
Das war einmal. In einem anderen Leben.
Doch unterdessen, wie die Zeit verrinnt,
Hat sich auch biographisch was ergeben:
Nun hab ich selbst ein Emigrantenkind.
Das lernt das Wörtchen "alien" buchstabieren
Und spricht zur Mutter: "Don't speak German, dear."
Muß knapp acht Jahr alt Diskussionen führen,
Daß er "allright" ist, wenn auch nicht von hier.
Grad wie das Flüchtlingskind beim Rektor May!
Wenn ich mir dies Dacapo so betrachte . . .
Er denkt, was ich in seinem Alter dachte:
Daß, wenn die Kriege aus sind, Frieden sei.